Vom Kaffeetisch und anderen Diskussionsgrundlagen

Ein Erfahrungsbericht:
Ich sitze bei Kaffee und Kuchen am Tisch meiner Eltern. Es wird darüber geredet, was es in der letzten Zeit so Neues gab. Eine Hochzeit im Bekanntenkreis. Ein Gruß vom früheren Klassenlehrer. Das Übliche.
Mir fällt auf, dass mein Vater keinen Kuchen auf seinem Teller hat und er ein bisschen gequält dreinsieht. Aus Erfahrung will ich nicht nachfragen. Ist vielleicht ein intimes Thema. Vielleicht? Ganz bestimmt...
Dann kommt er selbst ins Erzählen. Er redet von seiner "Plautze", die er endlich loswerden will. Er lacht beschämt. Jetzt aber wirklich! Und deswegen esse er jetzt nur noch abends und dann auch nur einen großen Salat. Das habe er doch früher auch schon so erfolgreich gemacht und nicht zugenommen. So hätte er damals auch am Wochenende "über die Strenge schlagen" können und sei rank und schlank geblieben.
Ich muss mich daran erinnern, dass es nicht in meiner Verantwortung liegt, dass dieser Mensch, den ich liebe, gut für sich sorgt. Es liegt allerdings in meiner Verantwortung, dass es mir gut geht und eigentlich müsste ich jetzt sowas sagen wie "Ich hoffe du findest deinen Weg und ich würde mich freuen, wenn wir ein anderes Thema besprechen könnten", weil mich das ganze Gespräch triggert. Und ich schweige. Verstumme. Denn ich schwanke zwischen kompletter Ablehnung seiner Aussagen und mich wieder in die Diät reinzusteigern. Es fällt mir unglaublich schwer das Thema Diät und Abnehmen distanziert und unemotional zu betrachten. Es hat mich so lange begleitet und geprägt - Wie eine alte Freundin - und jetzt weiß ich es besser und fühle es doch nicht immer.
Während ich noch mit mir hadere, möchte mein Vater Tipps wie er es schafft abzunehmen. Was sage ich? Möchte ich ihm sagen, was ich über Jahre lernen durfte? -"Hör auf deinen Körper und dein Gefühl, denn Restriktion führt zu Widerstand." Oder sage ich ihm was er hören möchte? -"Du musst dich an starre Pläne halten und Kalorien zählen und teure Diätprodukte kaufen, dann nimmst du ganz von selbst ab."
Wie erkläre ich meinen Eltern, dass das Essen für etwas Anderes steht? Für Sicherheit oder Geborgenheit. Zur Betäubung oder Bestätigung. Meine Eltern, die so weit weg von sich und ihren Gefühlen sind, weil es damals Sinn gemacht hat, um sich vor den Schrecken im Krieg oder dem Jähzorn des Vaters zu schützen. Und jetzt dürften sie sich damit auseinandersetzen ohne Angst um ihr Leben zu haben.
Mittlerweile kann ich sagen, dass das Thema Diät mehrfach auf den Tisch kommt und ich mich ausprobieren kann. Ich kann testen was passiert, wenn ich sage, dass ich das Thema wechseln möchte oder wenn ich es aushalte. Ich kann herausfinden, was meine Eltern erwidern, wenn ich mit ihnen über ihre potentiellen Gefühle sprechen möchte oder ihnen sage was sie hören wollen. Manchmal sage ich ihnen auch beides gleichzeitig. Und ich muss ganz oft lachen, wenn ich sehe wie sehr sie davon überfordert sind, ihre weiche Seite zuzulassen. Ich lache nicht über sie, sondern ich finde es toll mich in ihnen zu sehen. An dem Punkt war ich auch mal. Und ich habe mich weiterentwickelt. Habe mich den Gefühlen gestellt und sie akzeptiert, dass es keinen Ernährungs-PLAN gibt, sondern nur Bedürfnisse, denen ich mich annehmen kann. Oder es lassen kann. Und dann ist da neben dem Mitgefühl, dass mein Vater eine Essstörung kultiviert hat, als er noch jung war, um überhaupt irgendwas kontrollieren zu können, und meine Mutter mit einem negativen Selbstbild aufgewachsen ist, auch noch Wut, dass sie sich nicht damit auseinandersetzen, von mir aber immer eine Änderung oder Besserung meines Verhaltens erwartet haben. Und auch das kann ich so langsam annehmen und Frieden schließen mit den beiden störrischen Alten, die ich einfach sehr lieb hab, auch wenn sie mir zum Teil ganz viel (Diät)Mist beigebracht haben.

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